Rohrkolben für das Vaterland
Ich beginne mit einer unkonventionellen Überschrift, die jedoch in keinem Fall falsch verstanden werden sollte, schon gleich gar nicht politisch unterlegt ist. Sie soll einzig darauf hinweisen, dass der Rohrkolben als Rohstoff, wie Sie gleich lesen werden, schon recht lange genutzt wird und damit nicht wirklich eine neue Erfindung ist.
Rohrkolben, Kolbenschilf, Typha
Stuttgart 1918; Auszug aus „Ersatzstoffe aus dem Pflanzenreich“ von Prof. Dr. Diels:
„Die in den Sümpfen, an Teichen, Ufern und ähnlichen Orten häufigen Rohrkolben aus der Gattung Typha wurden bereits zu frühen Zeiten zu verschiedenen Zwecken genutzt. So berichtet Böhmer, dass die Blätter des breitblättrigen Rohrkolbens, Typha latifolia, von den Fassbindern zur Einlegung und Verstopfung der Dauben und Bodenstücke an den Wein- und Bierfässern gebraucht wurden, und dass diese Art desshalb vielfach angepflanzt wurde.
In den Fruchtkolben sitzen zwischen den winzig kleinen Früchtchen lange Haare in großer Menge. Es liegt nahe, diese Haare zu nutzen. In der Tat wird von derartigen Versuchen schon im 18. Jhd. aus Schweden und Russland berichtet. Im Jahre 1789 sah man auf der Leipziger Herbstmesse Hüte aus Filz, der aus einem Teil Typha–Haare und zwei Teilen Hasenhaaren bestand. Gegenwärtig verwendet man die Fruchtwolle zum Stopfen von Kissen, zur Herstellung von Binden und zu anderen Lazarettzwecken. Für einen Doppelzentner wurden 20 Mark bezahlt.
In der jüngsten Zeit hat Typha eine weitere, erhebliche Bedeutung erlangt. Denn wenn es kaum je gelingen wird, die Typha-Haare des Fruchtstandes zu Spinnfasern zu verarbeiten, so hat man doch die in Blättern und Stengel reichlich vorhandenen Bastfasern zu einem wertvollen Ersatz zu Jute und als Streckmittel für Flachs und Hanf verarbeiten können. Seile, Stricke, mit Wollabfällen gemischt, auch Stoffe und Tuche lassen sich aus Typha-Faser herstellen: 1917 sollen schon Waren im Wert von 40 Millionen Mark daraus erzeugt worden sein. Die groben Stengelfasern ließen sich vielleicht auch zu Besen- und Bürstenfasern verarbeiten.
Die Aufschließung der Faser ist neuerdings in weitgehendem Maße gelungen, so dass für die Verarbeitung der haltbaren Faser noch weitere Möglichkeiten gegeben sind. Außerdem kann man aus Typha Papier herstellen.
Die Sammlung und Verarbeitung der Typha betreiben die „Deutsche Typha-Verwertungsgesellschaft m.b.h.“ …. Sie hat auch ein Flugblatt „Sammelt Typha! Ihr helft damit dem Vaterland“ herausgegeben.„
Soweit der Stand der Wissenschaft vor etwas weniger als 100 Jahren.
Aber was ist daraus geworden?
Lebt noch eine Industrie, die sich mit dem Rohrkolben, dem Kanonenputzer, Lampenputzer, Pomesel oder Schlotfeger, wie er auch genannt wird, beschäftigt?
Ja!
Und irgendwie auch fürs Vaterland. Genauer für das Bauvolk, denn ein junges Unternehmen im österreichischen Braunau hat sich daran erinnert, dass der Rohrkolben sehr gut industriell nutzbar ist und hat gleich mal 7 Patente für eine industrielle Verwertung angemeldet. Eines davon ist ein Dämmstoff aus dem Rohstoff Rohrkolben.
Die Dämmplatte wird zu 85% aus kleingeschnittenen Blättern des schmal- und breitblättrigen Rohrkolbens hergestellt und mit Stützfasern aus Pflanzenstärke ausreichend stabil für die Verwendung als Dämmstoff IN Dach, Wand und Boden ausgestattet. Die Fassadendämmplatte enthält im Gegensatz hierzu Stützfasern aus Polyester. Als Beigabe zum Brandschutz wird ca. 1 % Ammoniumsalz (Angaben des Herstellers: < 1%) zugegeben. Mittlerweile (Stand 2013) werden auch Hanffasern in das Plattenprodukt für die Nutzung IN Dach, Wand und Boden einbezogen. Ohne Stützfasern (aber mit Ammoniumsalz) kann der Dämmstoff als lose Schüttware bezogen werden. Jedoch haben bis dato weder die Platten noch der lose Dämmstoff eine allgemeine bauaufsichtlich Zulassung (Stand 2013).
Die publizierten bauphysikalischen Werte der Dämmplatte können sich durchaus sehen lassen. Mit einer Wasserdampfdiffusionszahl von 4 (lose Schüttware 2) und einem Bemessungswert der Wärmeleitfähigkeit von 0,040 W/mK muss sich der B2-Baustoff nach DIN 4102 (nach DIN EN 13501-1, E), zumindest nach dem Papier, in keinster Weise hinter etwaigen anderen Biodämmstoffen verstecken. Denn mit diesen Werten zieht die Dämmplatte zum Beispiel auf Augenhöhe mit den bewährten Dämmplatten aus Nutzhanf oder auch anderen vergleichbaren Dämmprodukten aus Pflanzenrohstoffen.
Die optisch sehr schöne und auch informative Imagebroschüre des Unternehmens fasst die Vorteile des Rohstoffes umfangreich aber dennoch einleuchtend wie folgt zusammen:
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Die Rohrkolben-Pflanze ist 15 x älter als der Mensch, ca. 109 Millionen Jahre
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Rohrkolben reinigt Gewässer, kann sogar Arsen abbauen
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Rohrkolbenwälder sind für den Klimaschutz 50 x effektiver als herkömmliche Wälder
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Der Rohrkolben hat bis zu 300.000 Samen, ausreichend für 18 Hektar Rohrkolbenwald
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Hektar Rohrkolben hat einen Trockenmassenertrag von 20 Tonnen
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Der Ertrag der Rohrkolbenblätter ist so hoch wie bei Mais
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Hektar Rohrkolben erzeugt pro Jahr ca. 22 Tonnen Sauerstoff, ausreichend um einen Menschen 76 Jahre mit selbigem zu versorgen
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Der Rohrkolben wächst in allen Klimazonen dieser Erde
Viele positiv klingende Werte, schöne Werbeartikel, nette Internetseite des Herstellers, aber dennoch kann ich hier und ausnahmsweise nicht von einem Baustoff berichten, dessen Produktion oder Baustelleneinsatz ich tatsächlich gesehen habe. Es bleibt so eine Berichterstattung unter Vorbehalt, deren Angaben und Beurteilung auch nicht ganz korrekt sein können. Dass der Rohstoff generell entsprechend genutzt werden kann, ist schon aufgrund einer Vielzahl von Berichterstattungen zwischen 1800 und 1920 unstrittig, auch die Eigenschaften der Rohstoffpflanze sind durch jede Menge Fachberichte aus der Biologie belegt. Jedoch erhielt ich auch nach mehreren Anfragen* keinen Zugang zur Produktion oder gar einem tatsächlich ausgeführten Bauvorhaben, auch weiterführende Fragen via E-Mail wurden nicht beantwortet. Dies muss natürlich nicht pauschal als negativ gewertet werden, stellt aber dennoch die Frage in den Raum, ob es sich hier um ein Produkt handelt, das realistisch in den Markt eingeführt werden soll oder ob wir es hier mehr mit einem Forschungsprojekt zu tun haben, dessen Reifeprozess nicht mit den werbenden Aussagen gleich zieht.
*Mehrere Anfragen zwischen Dezember 2011 und Februar 2013
Dieser Text wurde am 1. Dezember 2012 erstellt und Ende Februar 2013 erweitert